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Meyra Smart

der Trecker unter den Rollis

Der erste Eindruck

Der Smart wird seit 2006 gebaut und ist laut Meyra vor allem für den Einsatz in der Fallpauschalversorgung gedacht.
Was sofort auffällt, ist das äußerst schlichte Design. Der Begriff „Design“ ist in diesem Zusammenhang leicht irreführend, sofern man mit „Design“ etwas wie ästhetische Gestaltung verbindet. Die blieb bei dem Smart weitgehend auf der Strecke. Lediglich die hintere Fahrwerksabdeckung zeigt Ansätze von Gestaltungswillen.

Die Ausstattung

Unser Testmodell entspricht weitgehend der Standardausstattung. Erwähnenswert ist, dass der Smart standardmäßig nur mit Sitz, Fahrwerk, Batterien und Steuerelektronik ausgestattet ist. Seitenteile (Armstützen) und Fußstützen müßen zusätzlich geordert werden. Unser Testrolli ist mit einer elektrischen Rückenlehnenverstellung und Kotflügel an den Antriebsrädern ausgestattet.

 
PositionNettopreis [€]Preis incl. 7% MwSt [€]
Basismodell Smart 6024,00 6445,68
Rückenklehne elektr. 816,00 873,12
Seitenteile 288,00 308,16
Beinstützen Oberteile 139,00 148,73
Bedienmodul f. 2 Zusatzantriebe 230,00 246,10
Beleuchtungsanlage 376,00 402,32
10km/h Version 382,00 408,74
Warntafel 86,00 92,02
Kotflügel hinten 41,00 43,87
Summe 8.382,00 8.968,74
Herstellerpreise vom Jan. 2011

Insgesamt vermittelt der Smart einen rustikalen und wenig ansprechenden Eindruck. Wir wollen sehen, wie er sich in der Praxis darstellt.

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Zunächst wollen wir uns den Rolli aber etwas genauer ansehen.

 

 

Der Sitz

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Der Smart ist mit einem Standardsitz ausgestattet. Dieser Sitz ist das erste, was einem an dem Fahrzeug auffällt, hat man doch spontan den Eindruck, dass dem Sitz irgend etwas fehlt.

Der Sitz besteht aus einer einfachen Kunststoffsitzplatte, die auf einem derben Metallrahmen befestigt ist. Als Rückenlehne dient ein schlichter Rohrrahmen, in den ein Kunstfasergewebe gespannt ist. Man mag es einfach nicht glauben: Dieser Sitz ist für Menschen mit Behinderung „entworfen“ worden!

 

 

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Der Sitz lässt sich wegen der festen Sitzplatte und dem starren Rückenlehnenrahmen nicht in der Breite verstellen. Die Lage der Lehne kann mit Werkzeug auf die gewünschte Sitztiefe eingestellt werden. Der Sitzwinkel lässt sich über eine Teleskopstange, die den Sitz vorne mittig unterstützt, in 5 Stufen ändern.

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An den Standardbeinstützen lässt sich die Höhe der Fußplatten über dem Boden verstellen. Sie sind leicht abnehmbar und schwenkbar.

Die Armlehnen lassen sich in der Höhe verstellen (Werkzeug) und aus ihrer Verankerung herausziehen, nachdem man eine Feststellschraube gelöst hat. Wichtig ist das beim Umsetzen. Allerdings bleibt die Frage, wohin mit den Armlehen, während des Umsetzens. Insbesondere die Lehne, an der das Steuerpult befestigt ist, ist immer noch mit dem Kabel an den Stuhl gebunden, so dass man sie nur schwierig so zur Seite legen kann, dass sie nicht stört. Wie man die Lehnen nach dem Umsetzen dann wieder angebaut bekommt, bleibt dem Behinderten überlassen.

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Ein Rollstuhl, der für den Innen- und Außenbereich konzipiert wurde, sollte es möglich machen, auch an Tische heranfahren zu können. Das geht mit der serienmäßigen Ausstattung des Smart leider nicht, da das Steuerpult im Wege steht. Optional ist ein Abschwenkmechanismus erhältlich, der ähnlich wie bei vielen Mitbewerbern, als offenliegendes Scherensystem (Romboid), an dem man sich herrlich die Finger ein- und abzwicken kann.

Im Automobilbau wären solche archaische und gefährliche Lösungen unvorstellbar! In der Hilfsmittelbrache bekommt man für diese „Lösungen“ sogar die erforderlichen Betriebssicherheitsnachweise!

Nicht nur, dass die ganze Sitzkonstruktion aus den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts entlehnt zu sein scheint, zu allem Überfluss macht das Ganze einen äußerst lieblos zusammengeschusterten Eindruck: Die aus derben Halbzeugen gefertigten Teile sind mit grob angeschweißten Haltepunkten und primitivsten Stellschrauben versehen, die Farbgebung der Teile scheint nach dem Zufallsprinzip, mal schwarz, mal nato-olivgrün ausgeführt worden zu sein.

Zudem erweist sich beim Fahren, dass die Schaumstoff-Sitzauflage nach hinten verrutscht, so dass durch die Vorderkante des Sitzbrettes eine Druckstelle an der Oberschenkelauflage entsteht.

Wir empfehlen den Verantwortlichen bei Meyra, die diesen Sitz "Für den dauerhaften und ganztägigen Gebrauch zur selbständigen Mobilität, auch bei stärkeren Funktionsstörungensich" anpreisen (Produktbeschreibung Bestellformular Ja.2010), sich wenigstens vorzustellen, nur für die tägliche Fahrt in die Firma so einen Sitz im Auto zu haben.

Meyra wird vermutlich entgegnen, dass man ja 3 weitere Sitzvarianten im Angebot habe, bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber, dass eine Variante lediglich ein durch verstellbare Riemen an der Rückenlehne „aufgemotzter“ Standardsitz ist, die andere Variante wieder aus der gleichen Sitzkonstruktion besteht, diesmal mit geformten Sitz-und Rückenpolstern und lediglich die 3. Variante einen „richtigen“ Sitz darstellt, der allerdings nicht von Meyra, sondern von Recaro kommt. (Recaro ist ein Hersteller für Fahr- und Flugzeugsitze. Vielen bekannt durch seine Sportsitze für Autos.)

Fahrwerk

Nachdem wir an dem Sitz nichts Gutes finden konnten, wollen wir uns dem Fahren zuwenden und untersuchen, wie es um das Fahrverhalten des Smart steht.

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Das Chassis besteht aus der Batteriewanne und einem umlaufenden Rohrrahmen, der vorne den Waagebalken trägt. Die Schwingenaufhängung der Hinterräder ist seitlich am Batteriekasten befestigt. Über dem Batteriekasten ist der Sitz hinten links und rechts an dem umlaufenden Rahmen gelenkig befestigt, so dass er sich um dieses Gelenk hochklappen läßt. Vorne ist der Sitz an einer Teleskopstange befestigt, die je nach Auszug den Sitzwinkel definiert. Hängt man diese Befestigung aus, läßt sich der Sitz hochklappen.

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Der Smart verfügt über gefederte Antriebsräder, mit verstellbaren Federbeinen. Das hört sich gut an, tatsächlich hält sich die Verstellbarkeit jedoch in engen Grenzen, da lediglich die Federvorspannung verändert werden kann.

Für schwere Personen erhöht man die Federvorspannung, wodurch allerdings auch der ohnehin kleine Federweg nochmals minimiert wird, für leichte Personen verringert man sie. Eine wirkungsvollere Anpassung an das FahrerInnengewicht ließe sich mit dem Austausch der Federn erreichen.

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Es gibt Feder-Dämpfer-Elemente, bei denen man die Federn in verschiedenen Härtegraden bekommen kann. Auf diese Weise bleibt der gesamte Federweg erhalten und die Einstellmöglichkeit der Federvorspannung dient dann nur noch dem „Fine-Tuning“.
Das ist aber bei dem Smart nicht vorgesehen.

 

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Die Vorderräder werden an einem „Waagebalken“ geführt. Das ist ein Balken der mittig gelenkig befestigt ist, und dessen maximale Bewegung um dieses Gelenk von Gummipuffern begrenzt und gedämpft wird. Dieses sehr einfache Konzept ermöglicht mit geringem konstruktiven Aufwand einen besseren Bodenkontakt bei unebener Fahrbahn. Bei steifen ungefederten Fahrwerken hebt bei Fahrbahnunebenheiten ein Rad von der Fahrbahn ab. In engen Grenzen lässt sich dies mit dem Waagebalken verhindern.

Fahrverhalten

Durch die Gummilagerung des Waagebalkens in Verbindung mit der Hinterradfederung ist das Fahrverhalten weicher, als bei ungefederten Fahrwerken, wenngleich Fahrbahnunebenheiten deutlich zu spüren sind. Dies um so mehr, als der Standardsitz nicht in der Lage ist, Stöße irgendwie zu absorbieren.

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Bei der Überwindung von Hindernissen, insbesondere von Bordsteinkanten meistert der Rollstuhl die von Meyra angegebene Hindernishöhe von 6cm problemlos. Wir haben mit unserem Testrolli sogar 7,5 cm überwinden können. (Räder vorne d=210mm) Überraschenderweise ohne dabei brutal durchgeschüttelt zu werden!

Auch Verschränkungen, bei denen ein Vorderrad um ca. 5cm angehoben wurde. meisterte der Smart gut: alle drei anderen Räder behielten Bodenkontakt.

Der allgemeine Fahrbetrieb gestaltet sich problemlos. Die bewährte PG-Steuerung läßt sich in allen Fahrstufen gut dosieren.
Uns erschien die 10hm/h Testversion etwas zu langsam zu sein. Mit einer entsprechenden Modifikation der Steuerungsparameter ließe sich das aber sicher korrigieren.

Elektrik

Ladeanschluß, Steuerelektronik

Auch die stärksten Batterien machen irgend wann schlapp.

Sehr gut gefällt uns, dass Meyra in seinem Bestellbogen (Ausgabe 01/2011) auf die Diskrepanz zwischen den normmäßig ermittelten Reichweiten und den im praktischen Betrieb tatsächlich erreichbaren Reichweiten hinweist.
Die unter besonderen Laborbedingungen ermittelten Reichweiten, die alle Hersteller für ihre Rollis angeben, sind in der Praxis nicht realisierbar. Ein Missverständnisse ausräumender und derart deutlicher Hinweis ist uns bisher nur bei Meyra aufgefallen.

Die Ladebuchse für das Kabel zum Ladegerät liegt gut erreichbar an der Unterseite des Fahrpults. Die Lüftergerüsche des mitgelieferten Ladegeräts (6A) sind jedoch erheblich. Für ein paar Cent mehr, hätte man einen leise laufenden Lüfter einbauen können. Wenn man den Rolli aber in der Garage auflädt, dürften die Lüftergeräusche weniger störend ausfallen.

Die Steuerelektronik stammt von PG Drives Technology. Die in unserem Testmodell verbaute Variante VR2-70 hat eine Ausgangsstromstärke von 70A (beide Motoren teilen sich die 70A) und kann 2 zusätzliche Verstellmotoren (actuators) ansteuern.

Beleuchtungsanlage

Hier gefallen die in die Batterieabdeckung eingelassenen Rücklichter. (Diese Kunststoffabdeckung ist das einzige Bauteil, das an gestalterisches Wollen erinnert.) Das wegen seiner Rustikalität etwas militärisch wirkende Design vieler Detail-Lösungen setzt sich auch in dem Rammschutz für die Scheinwerfer fort. Dieser ist zweifellos sehr wirksam, ob er aber derart martialisch ausgeführt sein muß, wagen wir zu bezweifeln.

Ruecklichter
Scheinwerfer_053
 

Servicefreundlichkeit

Batteriekasten_025

Batteriezugänglichkeit

Auch bei diesem Rollstuhl gucken wir uns die Zugänglichkeit und Servicefreundlichkeit der Batterien an, auch wenn dies eher eine Domain der Fachhändler ist.

Serienmäßig verfügt unser Testrolli (Baujahr Sept. 2009) über 2 Gelbatterien mit 12V/60Ah. In den aktuellen Smartmodellen sind serienmäßig nur noch 50AH Batterien verbaut. Die Batterien sind dank des einfach hochklappbaren Sitzes gut zugänglich in einer Wanne untergebracht. Sie können einfach nach ober herausgehoben werden.

Transport

Um den Rollstuhl schieben zu können, lassen sich die Motoren über einen zentralen Schalthebel leicht ein-und auskuppeln. Auch dieser Hebel ist wieder ein schönes Beispiel für das schon erwähnte "Betriebsschlosserdesign.: grobschlächtig und in "Nato-Olivgrün" (warum nur?) ausgeführt.

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Zum Transport im KFZ lässt sich der Smart mit wenigen Handgriffen kompakt zusammen legen. Dazu nimmt man die Seitenteile und die Fußstützen ab und klappt die Rückenlehne nach vorne auf die Sitzfläche. Mit seinen 115kg ist der Smart ein relativ leichter Elektrorollstuhl, was einem vor allem beim Verladen sehr entgegen kommt. (Auffahrrampen sindtrotzdem empfehlenswert.)
Zur Ladungssicherung fehlen zwar definierte Zurrösen, jedoch läßt sich der Smart gut an seinem umlaufenden Rohrrahmen verzurren.

 

 

Fazit:

Der Smart konnte uns nicht überzeugen. Zwar sprechen die akzeptablen Fahreigenschaften und die stabile Konstruktion für das Fahrzeug, jedoch zeigt der Smart bei den Detaillösungen große Schwächen.

Das Design erinnert an Baustellenfahrzeuge der 60er Jahre. Farb- und Formgebung wirken lieblos und wenig ausgereift. Auch was die Funktion betrifft, gibt es Mängel. Erwähnt seien hier die Armlehnen (nicht hoch klappbar) oder der offen liegende Mechanismus des abschwenkbaren Bedienpults (Verletzungsgefahr).

Der auf unserem Testfahrzeug montierte Standardsitz ist in seiner Schlichtheit und „Anti-Ergonomie“ kaum zu übertreffen. Es ist uns unbegreiflich, dass ein Sitz dieser Ausführung 2011 noch als behindertengerechte Ausstattung angeboten wird.
Übrigens ist Meyra keineswegs ein Exklusiv-Ausrüster für derartige Sitze. Fast alle Mitbewerber haben ähnliche Sitze im Programm.

Müssen Rollstühle weh tun?

  • robust
  • flott als 10km/h Version
  • lieblos zusammengeschustertes Fahrzeug
  • primitive technische Lösungen
  • zufällig wirkende Farbgebung
  • museumsreifer Standardsitz