Jive bruecke 666

 

Sunrise Medical, Quickie Jive M

Der über Hindernisse tanzt.

 

Vorwort

Jive Profil li h250

Hatte ich nicht erst vor kurzem über den Salsa M, die kleine Schwester (oder der kleine Bruder???) des Jive M, berichtet?

Naja, 2 Jahre ist das schon wieder her! Damals gefiel mir der Salsa M recht gut. (Mal abgesehen von ein paar Kleinigkeiten.)

Mit dem Quickie Jive M hat Sunrise Medical nun einen Rolli im Angebot, der dem Salsa M sehr ähnlich ist. Auch er verspricht dank seines Mittelradantriebs besondere Wendigkeit und wegen seines aufwendig konstruierten Fahrwerks soll er besondere Fähigkeiten bei der Verwendung im Außenbereich mitbringen.

Wir wollen sehen, ob der Jive die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllen kann.

Der erste Eindruck

Jive Halbprofil re 250

In Erwartung eines „großen Bruders“ des Salsa M, war ich überrascht, wie kompakt der Jive M sich mir vorstellte. Einzig die kräftigen, breiten „Pranken“ der Vorderradschwingen wiesen darauf hin, dass der Jive M mehr können möchte, als der Salsa M.


Ansonsten fallen schon auf den ersten Blick das schön detaillierte Fahrwerk und die ordentlich verarbeiteten Sitzbezüge auf. Der erste Eindruck fällt also recht positiv aus. Mal sehen, ob sich dies bei näherer Betrachtung bestätigen lässt.

Die Ausstattung

Neben dem Jive M mit Mittelradantrieb bietet Sunrise Medical den Jive auch als Frontantriebler (Jive F) und als Heckantriebler (Jive R²) an.

Unser Testmodell ist mit einigen Extras ausgestattet:

Die 10-km/h-Version erlaubt gemeinsame Ausflüge mit fahrradfahrenden Freunden, das abschwenkbare Steuerteil ermöglicht das Heranfahren an Tische im Biergarten (und anderswo!), und Kopfstütze und Sitzkantelung helfen auch längere Biergartenaufenthalte zu meistern.
Die Sitzkantelung reduziert den Druck aufs Sitzfleisch (nicht aber auf die Blase!) und die Kopfstütze stützt das Köpfchen, wenn’s schwer wird.

Und dann haben wir noch einen gepolsterten Kleiderschutz, dessen Funktion mir nicht ganz klar wurde.

Sunrise Medical bietet, neben den in den Bestellbögen aufgeführten Ausstattungsmerkmalen, im Rahmen des "Für mich gebaut" (FMG) Sonderbaus zahllose Möglichkeiten der individuellen Konfiguration an.

Die genauen Ausstattungsmerkmale unseres Testrollis könnt ihr der folgenden Tabelle entnehmen. Die in der Tabelle aufgeführte Vergleichskonfiguration soll einen annähernden Preisvergleich zwischen den von uns getesteten Rollis ermöglichen. Wir versuchen dabei, die Ausstattung der verschiedenen Modelle möglichst gleichartig zu halten. ("ROLLSTUHLCHECK-Konfiguration")
Bitte beachtet das jeweilige Veröffentlichungsdatum der Herstellerpreislisten.

Hersteller Listenpreise vom 18.02.2014
 Jive M TestmodellJive M Vergleichsmodell
PositionNetto [€]incl.MwSt [€]Netto [€]incl.MwSt [€]
Basismodell 7.815,00 8.362,05 7.815,00 8.362,05
Mehrkosten für 10 km/h
incl. Warndreieck
693,00 741,51 693,00 741,51
Sitzkissen Jay Optimum Comfort 299,00 319,93 --- ---
Sitzkissen Jay Comfort --- --- 249,00 266,43
Rücken Jay Comfort Kontur 349,00 373,43 --- ---
Rücken Jay Comfort Standard --- --- 199,00 212,93
Kleiderschutz gepolstert 49,00 52,43 --- ---
Kleiderschutz --- --- 0,00 0,00
Kopfstütze 285,00 304,95 --- ---
Sitzkantelung elektrisch (30º) 1.200,00 1.284,00 1.200,00 1.284,00
Wadenpolster 0,00 0,00 0,00 0,00
Fußplatten winkelverstellbar 0,00 0,00 0,00 0,00
Kotflügel Antriebsrad 0,00 0,00 0,00 0,00
Bedienpult abschwenkbar 156,00 166,92 156,00 166,92
R-Net Steuerung Elektronik 90A 800,00 856,00 --- ---
R-Net  Bedienpult R-Net (LCD) 760,00 813,20 --- ---
Bedienpult VR2 90A --- --- 0,00 0,00
Batterie 60Ah /20h --- --- 0,00 0,00
Batterie 70Ah /20h 139,00 148,73 --- ---
Ladegerät 8A 0,00 0,00 0,00 0,00
Beleuchtung LED 0,00 0,00 0,00 0,00
Schiebegriffe --- --- --- ---
4 Zurrösen 0,00 0,00 0,00 0,00
Haltegurt --- --- --- ---
Summe 12.545,00 13.423,15 10.451,00 11.182,57

 

Jive Halbprofil re2 250

Der Sitz

Sunrise Medical sieht in der Basisausstattung nur einen Sitzrahmen vor. Sitz- und Rückenpolster müssen optional, je nach individuellem Bedarf, extra dazu bestellt werden.

Der Sitz wirkt klar strukturiert und aufgeräumt, jedoch lassen ihn die dicken Sitz- und Rückenpolster, zusammen mit den massiven und sehr großen Armlehnen etwas wuchtig erscheinen. Besonders die Armlehnen und deren Aufnahmen könnten noch ein bisschen gestalterisches Finetuning vertragen.

Sitzkissen

Unser Testrolli ist mit dem Sitzkissen Optimum Comfort ausgestattet, das dadurch auffällt, dass der Sitzbezug völlig faltenfrei dem Polster angepasst wurde. Bei jedem anderen Produkt wäre dies keine extra Erwähnung wert, nicht so in der Hilfsmittelbranche. Auf sackähnliche, faltenwerfende Sitzbezüge treffe ich immer wieder.

Auch beim Salsa M war dies ein wesentlicher Kritikpunkt, der uns die Freude am Salsa deutlich verdarb.

Jive Sitzkissen h250

Das Sitzkissen des Jive hingegen sieht richtig klasse aus. Eine Besonderheit des Optimum Comfort Sitzkissens ist, dass die Sitzplatte im Bereich der Sitzbeinhöcker ausgeschnitten ist und so die Druckbelastung auf den Po in diesem Bereich verringert. Das beugt Durchblutungsstörungen vor und verringert das Dekubitus-Risiko.

Das Sitzkissen, incl. der eingearbeiteten Sitzplatte wird einfach auf den Sitzrahmen geclipst und zusätzlich mit Klettstreifen gehalten. Der Wechsel des Sitzkissens ist also sehr einfach und schnell zu erledigen. Der Polsterbezug auf der Sitzfläche ist sehr rutschfest. Diejenigen, die ihren Po beim Umsetzen nicht entlasten können und rutschen müssen, sollten sich einen anderen Bezug wählen.

Rücken

Jive Rueckengurte 250

Jive RueckenKontur h333

Das Rückenpolster Comfort mit aktiver Kontur ist ähnlich aufgebaut, wie das Sitzkissen. Es besteht aus einer Trägerplatte, die in der Mitte von oben nach unten eine Aussparung hat, in denen verstellbare Gurte eingespannt sind. Es ist relativ stark konturiert, bietet guten Seitenhalt und verjüngt sich im Bereich der Schulterblätter etwas. Der Velourbezug fühlt sich angenehm an und ist atmungsaktiv.

Der Sitzrahmen bietet leider nur eine recht umständliche, und nur mit Werkzeug zu realisierende Möglichkeit den Rückenwinkel zu verstellen. In der Praxis heißt das, mit dem einmal vom Sanitätshaus eingestellten Rückenwinkel alt werden.

Das kennen wir von vielen anderen Rollstühlen. Es scheint, als sei eine einfache Rückenverstellung wie sie selbst einfachste Autos zu Beginn der 1960er Jahre hatten ( z.B. Renault 4, 2CV) für die Entwickler von Rollstuhlsitzen eine unlösbare Aufgabe.

Möglich aber auch, dass die Entwickler das vielleicht sogar könnten, die Kaufleute ihnen aber das verwehren. Schließlich kann der Endkunde sich ja, wenn er unbedingt selbst die Rückenneigung verändern will, auch für gut 1300,-€ eine elektrisch verstellbare Rückenlehne ordern. Prima Lösung! Typisch Hilfsmittelbranche.

Sunrise Medical bietet auch eine manuelle Rückenverstellung mittels Gasdruckfeder (wie bei einem Bürostuhl) an. Allerding müssen dafür aufpreispflichtige Schiebegriffe montiert werden, um daran den bremshebelähnlichen Bediengriff für die Rückenverstellung befestigen zu können. Mal abgesehen von der Frage, ob es sinnvoll ist, die Rückenlehne nur dann verstellen zu können, wenn man Schiebegriffe hat (das verstehe wer will…), muss man bei dieser Art der Rückenverstellung immer erst einen Passanten finden, der sie bedient. Für den Rollstuhlnutzer ist sie unerreichbar.
Meisterleistungen des behindertengerechten Fahrzeugbaus!

Armlehnen

Jive Armlehne250

Was beim Salsa M recht elegant gelöst war, die hochklappbaren Armstützen, ist beim Jive M serienmäßig recht unpraktisch und klobig ausgefallen. Die Armstützen lassen sich bei unserem Testmodell nur stecken, nicht aber klappen. Bei dieser Lösung hat man beim Umsetzen immer das Problem, nicht zu wissen, wohin mit den Stützen. Zudem fallen sie, abgebaut und irgendwo abgestellt, garantiert so um, dass man sie kaum noch erreichen kann. Nicht selten nimmt dabei auch das Kabel zum Bedienpult Schaden. Keine gute Lösung also.

Zudem sind die Armstützen mit ca. 3,5 kg (ohne Bedienpult) nicht gerade Leichtgewichte.

Sunrise Medical bietet optional hochklappbare Armstützen an. Ich kenne diese Armstützen nur von Fotos, da machen sie allerdings keinen sehr eleganten Eindruck. Sie wirken durch die Verwendung einer zusätzlichen Abstützung klobig und schwer.

Nutzer des Jive M berichteten mir, dass sie mit dem Gewicht der hochklappbaren Armstützen keine Probleme hätten. Man müsse jedoch darauf achten, dass man beim Zurückklappen der Armstützen in die Normalposition, mit der senkrechte Stütze die Halterung nicht verfehle. Andernfalls sacken die Armstützen nach unten durch.

Abschwenkbares Bedienteil

War der Abschwenkmechanismus für das Bedienteil beim Salsa M noch Teil der Serienausstattung, ist er beim Jive M nur optional erhältlich. Schade. Zudem ist es sehr schlicht konstruiert, äußerst schwergängig und wegen des offen liegenden Mechanismus auch noch gefährlich!

Da das Thema Abschwenkmechanismus ein Dauerthema ist (und keinesfalls ein Alleinstellungsmerkmal von Sunrise Medical), und ich nicht jedes Mal einen neuen Text zum alten Thema verfassen mag, kommt hier heute etwas Neues: ein Kasten zum Thema Abschwenkmechanismus.
Den kann ich dann zukünftig einfach in die jeweiligen Berichte hineinkopieren und fertig! So wie’s aussieht, werde ich diesen Kasten noch oft verwenden können.

Jive Steuerpult vorne h470

Grundsätzliches zu Abschwenkmechanismen

Mit einem Rolli für den Innen- und Außenbereich muss man an Tische heranfahren können.

Deshalb ist ein Abschwenkmechanismus für das Bedienpult unerlässlich. Es ist also nicht optionale Kür, sondern Teil der Basisversorgung und damit Pflicht!

Leider sind fast alle dieser Abschwenkmechanismen von kaum zu überbietender Schlichtheit und mit so wenig Sachverstand konstruiert, dass sie nicht nur äußerst schwergängig sind, sondern zudem auch noch gefährlich!
Offenliegende Parallelogramm-Gestänge eignen sich hervorragend dazu, sich ordentlich die Finger zu quetschen. Fasst ein Kleinkind in den Mechanismus, um sich daran hochzuziehen oder festzuhalten, ist so ein Fingerchen auch schnell mal abgetrennt. Derartige Mechanismen sind nicht betriebssicher!

Abschwenkmechanismen müssen so beschaffen sein, dass sie keine Gefahr darstellen. Sie müssen gekapselt sein!

Fußstützen

Jive Fussstuetze 250

Der Jive M ist standardmäßig mit einer zentralen Fußstütze, Wadenpelotten und großem Fußbrett ausgerüstet. Die Beinstütze ist längen-, aber leider nicht winkelverstellbar (Kniewinkel), das Fußbrett ist winkelverstellbar. Optional sind getrennte Beinstützen (auch winkelverstellbar) erhältlich.

Jive Kantelung unten

Kantelung

Unser Demostuhl ist mit einer Kantelung ausgestattet, Sie erlaubt ein Kippen der Sitz-Rücken Kombination um 30°. (Beim Kanteln bleibt der Winkel zwischen Sitzfläche und Rücken unverändert.)

Das Fahrwerk

Der Jive M ist wie der Salsa M ein Rollstuhl für den Innen- und Außenbereich, jedoch mit einigen Optimierungen für die bessere Eignung im Außenbereich.

Jive Pranke 250

So ist der Jive mit ca. 63cm Fahrwerksbreite um ca. 3cm breiter als der Salsa M. Zudem wurde der Bewegungsspielraum der Vorder- und Hinterradschwingen erhöht, was einer leichteren Hindernisüberwindung entgegen kommen soll.
Um zu verhindern, dass die größeren Freiheitsgrade der Schwingen die Stabilität und Lenkeigenschaften nachteilig verändern, hat man dem Jive für die vordere Radführung Parallelschwingen gegönnt, die den Winkel der vertikalen Drehachse der Gabel in allen Lagen unverändert beibehalten. (Der sogenannte Nachlauf bleibt dadurch gleich.)

Exkurs: Zur Problemstellung bei Mittelradantrieben

Ein Mittelradantrieb bringt naturgemäß einige Probleme mit sich:

  • Die Antriebsräder verlieren Traktion, wenn Vorder- und Hinterräder sich auf leicht erhöhtem Terrain befinden. Z.B. bei der Querung einer kleinen Senke. (Skizze 1)
  • Die Antriebsräder verlieren den Bodenkontakt, wenn die Vorderräder ein Hindernis hochsteigen. (Skizze 2)
Prob Senke
Problem Hindernis

Will man dies verhindern, müssen die vorderen und hinteren Radachsen nach oben beweglich sein. Dies führt aber gleich zu einem neuen Problem:

  • Bei Bergabfahrten verlagert sich der Schwerpunkt des Rollis nach vorne. Bei steilen Bergabfahrten, verbunden mit einem plötzlichen Bremsmanöver könnte das dazu führen, dass der Rolli nach vorne kippt. Die vorderen Lenkräder müssen also den Rolli gegen Kippen nach vorne abstützen können und dürfen sich in diesem Fall nicht nach oben bewegen. (Skizze 3 und 4)
SchwerkraftNormal
SchwerkraftBergab

Die Stützräder müssen also je nach Fahrsituation mal Bewegungen nach oben ausführen können, mal muss diese Bewegung blockiert sein.

Skizze Senke
Skizze Hindernis

Konstruktion…

 

Die oben beschriebene Problematik haben die Entwickler des Jive M mittels einer raffinierten Konstruktion gelöst. Je nach Fahrsituation werden Vorder- und Hinterradschwinge blockiert oder können sich auf und ab bewegen.

Bei Bergabfahrten verlagert sich der Fahrzeugschwerpunkt nach vorne (Skizze 4). Die Vorderräder übernehmen nun eine Stützfunktion, die besonders beim Bremsen wichtig ist. Sie dürfen nun also nicht einfedern, weil sonst der Insasse aus dem Rolli zu kippen droht.

Jive Radaufhaengung 666

Dies wird durch eine Gasdruckfeder erreicht, die arretiert, die Vorder- und Hinterradschwinge in ihrer Bewegung blockiert.

Stehen die Vorderräder an einem Hindernis (Bordsteinkante) und man gibt „Gas“, kann der Rolli zunächst keinen Vortrieb aufbauen. Da sich die Antriebsräder zunächst nicht um die Radachsen drehen können (ausreichende Traktion vorausgesetzt), sorgt das Drehmoment der Motoren dafür, dass sich das Chassis um die Radachsen dreht. Das Chassis senkt sich hinten ab. Relativ zum Chassis bewegen die die Hinterradschwingen nach oben.

Dadurch wird die Arretierung der Gasdruckfeder aufgehoben und die Sperrung der Bewegungsmöglichkeit der Schwingen deaktiviert. Die Schwingen sind mechanisch so verbunden, dass die Aufwärtsbewegung der Hinterradschwingen die Vorderradschwingen ebenfalls nach oben bewegen (und umgekehrt).

Durch die Entlastung und das gleichzeitige aktive Anheben der Vorderräder, kann der Jive nun die Kante hochsteigen.
Auf diese Weise ist gewährleistet, dass die Antriebsräder, auch wenn der Rolli mit den Vorderrädern auf dem Hindernis steht, Bodenkontakt und somit Traktion haben.

 

In diesem Werbevideo kann man schön sehen, wie die Vorder- und Hinterradschwingen arbeiten. Leider sieht man nicht, was dabei der Fahrer erleidet. Werbevideo halt ...

Ich bin gespannt, wie sich die aufwendige Konstruktion in der Praxis verhält, und lade schon mal die Batterien, um mit dem Jive den Berliner Regenwald zu erkunden.

 … und Praxis

 Jive Humboldhain 645

Wie schon beim Salsa M bedurfte es auch beim Jive für mich als „gelerntem Heckantriebler“ etwas Eingewöhnungszeit, um mich an den anderen Drehpunkt des Rollis zu gewöhnen. Der liegt nämlich genau unter dem Po und nicht, wie vom Heckantrieb gewohnt, knapp hinter einem.

Wie immer mit ungewohnten Antriebskonzepten, habe ich erst mal ein paar neue Schrammen an Türrahmen, Möbeln und Jive hinterlassen, um aber dann recht schnell den Rolli zielgenau auf engstem Raum und ohne weitere Kollateralschäden wenden zu können.

Obwohl ich nicht das erste Mal mit einem mittelradgetriebenen Rolli unterwegs war, bin ich doch immer wieder erstaunt, wie wendig diese Rollis sind.

Dem Lift habe ich dieses Mal keine neuen Schrammen zugefügt. Die Regenpause nutzend, geht’s los. Auf dem Berliner Pflaster der Sonne entgegen!  Da will ich keine Zeit verlieren, wähle Fahrprofil „Volle Kanne“, Joystick auf Anschlag, um in 2 Sekunden auf 10km/h zu beschleunigen. (Ohne Helm und ohne Gurt! „The Stick“ würde staunen!)

Die Geradeausfahreigenschaften sind gut und leichte Höhenunterschiede zwischen den Gehwegplatten bügelt der Jive M prima weg. Das ist fast wie Fliegen! (Vermutlich auch wegen des enormen Drucks, mit dem man beim Beschleunigen in den Sitz gepresst wird.)

Da vorne naht eine Bordsteinkante (abgesenkt), gefolgt von groben Kopfsteinpflaster. Ohne Bremsmanöver nehme ich die kleine Kante, was überraschend gut geht, aber dann, auf dem Kopfsteinpflaster, werde ich brutal durchgeschüttelt. Nix mehr Fliegen! Eher fühlt sich das an wie eine Notlandung abseits nicht fertiggestellter Flughäfen. Spontan entwickle ich tiefes (wenn auch wenig nachhaltiges) Mitgefühl mit unserem Bürgermeister, der dieser Tage zur Landung ohne Flughafen ansetzen musste.
In Gedenken an ihn drehe ich noch eine Extrarunde und lasse mich ordentlich durchschütteln, um dann aber schnell auf den deutlich angenehmeren Gehweg zu wechseln. Denn auch der Jive scheint sich auf glatten Tanzböden einfach besser zu fühlen.

Hier macht der Jive M richtig Spaß! Weiter geht’s Richtung Park. Auf dem Weg dorthin muss ich einen etwa 8cm hohen Bordstein hinunter fahren, eine Teerstraße überqueren (wie Fliegen!) und auf der anderen Seite wieder einen Bordstein erklimmen.

Jive Kante 250

Schon das Hinunterfahren vom Bürgersteig auf die Straße, dass ich sehr behutsam und vorsichtig angehe, geht überraschend weich und geschmeidig vonstatten. Das Hinauffahren auf der anderen Seite gerät dann geradezu zu einem Genuss! Der Jive steigt ganz sachte und ohne Murren das Hindernis hoch! Dabei kann man direkt an das Hindernis heranfahren. Die Vorderräder klettern dank der ausgeklügelten Radaufhängung weich das Hindernis hoch und auch die Antriebsräder schaffen die Hindernisüberwindung aus dem Stand. Man muss also nicht, wie bei so vielen anderen Rollstühlen, mit Schwung gegen das Hindernis brettern, um eine Chance zu haben, das Hindernis (arg durchgeschüttelt) überwinden zu können.

Gelegentlich schafften die Antriebsräder die Kante nicht gleich beim ersten Versuch (die kleinen vorderen Lenkräder schon!), sie finden keinen Gripp an der Kante und drehen dann leer durch. Beim 2.Versuch klappte es aber dann immer.
Dass man mit dem Jive so sanft Kanten hochfahren kann, überraschte mich sehr. In Anbetracht der kleinen Vorderräder hatte ich das nicht für möglich gehalten.

Für die Hindernisüberwindung spielt neben der ausgeklügelten Radaufhängung auch eine ausreichend stark dimensionierte Steuerungselektronik eine wichtige Rolle. Der Jive M ist in der 6 und 10 km/h Version serienmäßig ,statt der bei den Mitbewerbern oft verwendeten 70 A Steuerungselektronik, mit einer 90 A Elektronik ausgestattet. Die 13km/h Version wird mit einer 120-A-Elektronik geliefert. Die 120 A Elektronik empfiehlt sich auch für Personen mit hohem Körpergewicht.

Jive RegenwaldJive Angst

Im Park angekommen, zeigt sich unser Jive beim Rasentest als geeignetes Testgerät. Leicht bucklige Rasenflächen und Geländekonturen bewältigt er problemlos. Ein Mähwerk dran und der Jive ergäbe einen extrem wendigen Aufsitzrasenmäher.

Selbst die kleinen Brückchen, die über eine Miniatur Flusslandschaft führen, ließen sich mit dem Jive meistern. Hier scheiterten schon viele Versuche, sie mit E-Rollis zu überwinden.

Die Schwierigkeit an dieser Art von Brückchen ist, dass sie sehr steile An- und Abfahrtsrampen haben. Zudem sind, um den Fußgängern einen sicheren Tritt zu ermöglichen, quer zur Gehrichtung Latten aufgenagelt, die dem Rollstuhl ein zusätzliches Hindernis bieten.

Und als wäer das nicht genug, beginnt die Rampe nicht ebenerdig, sondern gleich mit einer kleinen Stufe, vor der lockerer Sandboden ist. An dieser Stufe habe ich mich mit den meisten Rollis festgefahren, da sich die Räder im lockeren Sand eingruben.

Jive Bruecke rauf
Jetzt Vollgas! (oben)
Sitzen bleiben! (rechts)

Nicht so mit dem Jive M! Die Vorderräder steigen, wie schon an den Bordsteinkanten, anstandslos hoch. Nun beherzt Gas geben und mit Schmackes die Rüttelrampe hoch. Oben glaubt man abzuheben und auf der anderen Seite droht man vorwärts aus dem Rolli zu stürzen, ab es geht!

Einfacher und deutlich empfehlenswerter ist es, einfach außen herum über die Wiese zu fahren oder Eis essen zu gehen..

Das Ergebnis unseres Rasentests war übrigens recht gut: Der Rasen zeigte keine besonderen Schäden nach unseren Versuchen.

Zum Jive Fahrwerk lässt sich sagen, dass die aufwendige Fahrwerkskonstruktion in erster Linie der Hindernisüberwindung zugutekommt. Das aber überzeugend!

Natürlich ist der Jive M kein Offroader. Gröbere Fahrbahnunebenheiten teilt er seinem Fahrer gnadenlos mit. Jedoch hat man auf den Untergründen, auf denen man sich in der Regel bewegt, wie Straßen, Gehwegen, o.ä., auch dank des guten Sitzes, viel Freude an dem Jive M.

Elektrik

Steuerelektronik

Der Quickie Jive M ist standardmäßig mit einer 90A VR2 Steuerung des britischen Herstellers PG Drives Technology ausgestattet. Damit kann man ohne weitere Zusatzgeräte 2 Verstellmotoren ansteuern (z.B. elt. Kantelung und elt. Rückenverstellung).

Bei unserem Rolli ist eine optional erhältliche 90A „R-Net“ Steuerung mit R-Net LCD Bedienteil verbaut (Aufpreis1669,20 € incl. MwSt.), die bis zu 6 zusätzliche Verstellmotoren ansteuern kann. Das Farbdisplay zeigt u.a. Tempo und zurückgelegte Wegstrecke an. In Anbetracht der allgemein nicht sehr zuverlässigen Anzeigen zum Batteriestatus ist ein „Tageskilometerzähler“ eine wertvolle Ergänzung.

Da unser Testrolli nur über einen einzigen Verstellmotor (Kantelung) verfügt, würde die deutlich preisgünstigere VR2 90A Steuerung völlig ausreichen.

Statt 1700,- € für den vermeintlichen Luxus eines Tageskilometerzählers auszugeben, kann man mit etwas Geschick auch für deutlich weniger als 10,-€ einen Fahrradtacho an seinen Rolli basteln. Den Spaß, der Hilfsmittelbranche mit ihren Mondpreisen mal eine Nase gedreht zu haben, gibt’s dann kostenlos obendrein.

Beleuchtung

Unser Jive ist mit einer LED-Beleuchtungsanlage ausgestattet. Das ist deshalb bemerkenswert, weil es bislang so gut wie keine StVO konformen LED Beleuchtungsanlagen für Rollstühle gab. (Rollis, die schneller als 6km/h fahren können, benötigen lt. StVO eine Beleuchtungsanlage).

Sunrise Medical teilte uns mit, dass die LED-Beleuchtung auf der Reha-Care 2014 (Reha Messe in Düsseldorf) vorgestellt würde und dann ab Anfang Oktober erhältlich sei.

Jive LED vorne

Jive LED hinten

Der Vorteil von LED Leuchten gegenüber den klassischen Glühlämchen liegt in ihrer wesentlich höheren Leuchtkraft, deutlich längerer Lebensdauer und geringerem Energiebedarf.

Die vorderen Scheinwerfer ragen zwar nicht über die breiteste Stelle des Rollis hinaus, können aber beim Schwenken doch seitlich mit Türrahmen o.ä. Kontakt aufnehmen. Da sie starr befestigt sind, würden sie derartige Kontakte vermutlich nicht schadlos überstehen. Besser wäre hier die übliche elastische Montage mit Gummielementen.

Batterien

Serienmäßig wird der Jive M mit 2 12V, 60 Ah Gel-Batterien ausgeliefert. Wer seine Ausflüge nicht gleich wieder wegen Strommangel abbrechen möchte, insbesondere bei den schnelleren Versionen, sollte für knapp 150,-€ (l. Herstellerlistenpreis = verhandelbar!) zu den optional erhältlichen 70Ah (C20) Batterien greifen. Nichts nervt mehr, als einen schönen Ausflug wegen leerer Batterien abbrechen zu müssen.

Ladegerät

Die Ladebuchse befindet sich, wie üblich, an der Unterseite des Bedienpults. Das 8A Ladegerät arbeitet lautlos und ist somit schlafzimmertauglich.

Servicefreundlichkeit

Batteriezugänglichkeit

Um an die Batterien zu kommen, muss der Sitz hochgeklappt werden. Dazu muss man 2 Rändelschrauben unter dem Sitz herausdrehen und kann dann den Sitz nach hinten hochklappen, wo er, von einem Sicherungsbolzen gehalten, automatisch einrastet.

Der Batteriekasten ist mit einem angekletteten Kunststoffdeckel geschlossen, der sich leicht abnehmen lässt. Nun hat man einen guten Zugang zu den Batterien. Sie lassen sich ohne Probleme an einem Gurt, der mit einem Clip direkt an den Batterien angebracht ist, herausheben. Die Batterien hängen sicher an dem Gurt und drohen nicht, wie bei vielen anderen Tragegurt-Lösungen, aus den Gurtschlaufen herauszurutschen. Sehr schön.

Jive Batteriezugang 333

Jive Batteriezugang 250

Das Schließen der Batteriewanne stellt sich wieder als etwas fummelig dar, weil sich das Klettband gerne in der noch nicht endgültigen Lage verhaken möchte. Hat man dann den Sitz wieder in seine Normalposition gebracht, wird’s schon wieder fummelig, weil man die langen Rändelschrauben zur Sicherung des Sitzes wieder eindrehen muss. Besser hätte mir da eine Lösung gefallen, die ähnlich funktioniert, wie die Sicherung, die den hochgeklappten Sitz in seiner Position hält. Sie rastet von alleine ein und ist gegen den Zug einer Rückstellfeder auch ohne Fummelei zu lösen.

Transport und Schiebebetrieb

Unser Salsa M verfügt über separate Motorentriegelungen, die man im Rolli sitzend schlecht erreichen kann. Das ist dann ärgerlich, wenn man, schon im Rolli sitzend, bemerkt, dass sich der Rolli noch im „Schiebemodus“ befindet.

Jive reisefertig2

Jive Bolzen

 

Zum Transport im Auto kann man die Rückenlehne nach vorne umklappen. Das ist allerdings eine arge Fummelei. Man muss dazu nur schlecht erreichbare Bolzen entfernen, die mit Sicheungssplinten versehen sind, die noch schlechter zu erreichen sind. Man wünscht niemanden bei Regenwetter, vor dem Auto stehend, umständlich den Rolli reisefertig machen zu müssen. Wirklich schlecht gelöst!

Sehr gut gefallen mir die 4 serienmäßigen Zurrösen, die ein sicheres Verzurren des Rollis im Auto erleichtern.

Jive zurr vorne

Jive zurr hinten

Der Quickie Jive M wurde Crash getestet und erfüllt damit die Anforderungen nach ISO 7176-19 zum Transport von Personen im Rollstuhl sitzend im Fahrzeug.

Fazit

Der Quickie Jive M ist ein hübscher Rollstuhl mit überraschenden Fähigkeiten bei der Hindernisüberwindung. Dank seiner Kompaktheit und hohen Wendigkeit kommt man mit dem Jive M sogar bei C&A zwischen den Kleiderständern durch und kann ihn auch gut zuhause nutzen. Im Außenbereich zeigt er die üblichen Schwächen bei der Federung, macht aber durchaus Spaß auf halbwegs glatten Untergründen. (Pirouetten drehen ist cool!)

Ich mochte den Jive vor allem wegen seiner fast liebevoll gestalteten Vorderpranken und dem faltenlosen Sitz. Ein schöner Rolli!

 

  • Material und Verarbeitung
  • faltenfreie Polsterbezüge
  • Wendigkeit
  • gute Hindernisüberwindung
  • mäßige Federung
  • Abschwenkmechanismus Bedienpult
  • fummelige Detaillösungen